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„Wir sollten uns mehr von Menschen überraschen lassen“

Professor Detlef Fetchenhauer im Interview

Detlef Fetchenhauer

Foto: Lisa Beller

Prof. Detlef Fetchenhauer ist Wirtschafts- und Sozialpsychologe an der Universität zu Köln und erforscht u.a. unsere Fähigkeit zur Selbst- und Fremdeinschätzung – und warum und wann wir uns vertrauen.


Interview

erschienen am 18. Juni 2016 im Magazin des Kölner Stadt-Anzeigers, das Interview führte Caroline Kron:


Guten Tag, Professor Fetchenhauer, wer bin ich, ich meine: wie?
Sie sind eine weibliche Journalistin, das wusste ich ja. Sie sind kommunikativ, haben ein offenes
Wesen, schwarze Haare, tragen roten Lippenstift – typisch für eine Journalistin, habe ich im ersten Moment gedacht.

Und im zweiten?
Sollte ich versuchen, mein Klischee zu hinterfragen.

Weil der erste Eindruck trügt?
Nicht zwangsläufig. Aber Ihr Auftreten, Ihr Verhalten, könnte auch Teil Ihrer Berufsrolle sein – und privat sind sie still und schüchtern.
Ich habe einmal einen Pfarrer erlebt, der im Gottesdienst unglaublich souverän, locker und rhetorisch wirkte – der geborene Redner, dachte ich. Als ich ihm später in einem Vieraugengespräch begegnete, wirkte er erstaunlich unsicher. Außerdem: Wieso denke ich, Sie passen ins Bild einer Journalistin? Hätte ich Sie statt in meinem Büro in der U-Bahn getroffen, hätte ich Ihren Beruf wahrscheinlich nicht erraten.

Die erste Einschätzung ist also vor allem abhängig von der Situation, in der man sich begegnet?
Und sie ist stark geprägt von Vorurteilen und Stereotypen. Wenn wir einer fremden Person begegnen, bilden wir innerhalb einer Zehntelsekunde einen ersten, erwartungsgesteuerten
Eindruck – indem wir unsere Vorstellungen von bestimmten Personengruppen, etwa wie eine 50-Jährige zu sein hat, eine Teenagerin, eine Türkin oder eine Bankerin, blitzschnell mit dieser Person abgleichen. Um sie dann in eine Schublade zu stecken, worin wir sie in der Regel ewig belassen.

Bedeutet das auch, es gibt keine zweite Chance auf einen guten ersten Eindruck?
Meist ist sie vertan, wenn das Aussehen oder das Verhalten der Person nicht den eigenen Erwartungen entspricht. Um die positiven Eigenschaften eines Menschen auf den zweiten Blick doch noch erkennen zu können, fehlt es leider oft an Gelegenheit. Studien haben gezeigt: Es macht keinen großen Unterschied, ob man jemand wenige Sekunden sieht oder sich eine halbe Stunde unterhält – der erste Eindruck verändert sich in der Regel nicht. Hat man mehr Zeit zur Einschätzung, ändert sich lediglich die Sicherheit, mit der man sein Urteil fällt.

Das heißt im Umkehrschluss: Der erste Eindruck bleibt in der Regel bestehen, weil er stimmt?
Es gibt zwei Richtungen in der Psychologie des ersten Eindrucks. Zwar gehen beide davon aus, dass die erste Einschätzung nur auf einem Bruchteil der zur Verfügung stehenden Informationen, auf Vorurteilen und Stereotypen beruht. Während der eine Forschungsansatz daraus schließt, dass das immer zu Fehleinschätzungen führt, nimmt der andere an, dass die erste, blitzschnelle Beurteilung verblüffend stimmig sein kann. Weil wir nur die relevantesten Informationen selektieren, also auswählen.

Ist also doch was dran an dem Gespür für die gemeinsame Wellenlänge oder gar die Liebe auf den ersten Blick?
Sie erinnern sich sicher an folgende Situation: Sie sind auf einer Party, kennen aber niemanden. Sie schauen in die Runde und irgendetwas veranlasst Sie schließlich dazu, auf jemanden zuzugehen: Nämlich, ob Ihnen die Person sympathisch, vertrauenswürdig und kompetent erscheint.

Was geschieht dabei in unserem Gehirn?
Es verarbeitet automatisch sehr schnell und sehr komplex alle verfügbaren Informationen über unbekannte Personen, auch ohne bewusste Anstrengung. So kommt das intuitive Gefühl zustande, dass sich dann rational nicht unbedingt genau begründen lässt.

Zurück zur Party. Wovon hängt ab, wen wir sympathisch und damit vertrauenswürdig empfinden? Welche Faktoren spielen eine Rolle – außer der Attraktivität?
Studien haben gezeigt, dass neben sofort, auch unbewusst wahrgenommenen Merkmalen, wie eine angenehm empfundene (Gesichts-) Physiognomie oder Mimik, auch die Ähnlichkeit eine große Rolle spielt. Empfinden wir eine Person als uns ähnlich, finden wir sie auf Anhieb sympathisch. Indizien dafür können zum Beispiel ähnliche Kleidung, Gesten, Angewohnheiten, aber auch Makel sein – bei näherem Kennenlernen dann auch die gleiche Herkunft, der gleiche kulturelle Hintergrund, das gleiche Hobby.


Hängt es auch davon ab, ob wir meinen, dass die andere Person uns sympathisch findet?
Genauso wie wir einen anderen Menschen in dem Maße attraktiv finden, wie wir annehmen,
dass er uns mag, bewerten wir eine sympathische Person umso sympathischer, je mehr wir davon ausgehen, dass sie uns auch mag. Dabei sind selbsterfüllende Prophezeiungen am Werk. Glauben wir, dass jemand uns mag, verhalten wir uns offener und liebenswerter – andersrum entsprechend abweisend.

Welche Eigenschaften braucht es, um Menschen richtig beurteilen zu können? Ist es auch eine Frage des Alters?
Nein, das Einschätzungsvermögen ist keine Altersfrage und hat, wie man vielleicht vermuten könnte, auch nichts mit formaler Intelligenz zu tun. Eher ist es eine Sache der Einstellung und der Fähigkeit zur Empathie und Offenheit allem Neuen, Fremden gegenüber.

Sind extrovertierte Menschen also in Punkto Einschätzungsgabe im Vorteil?
Das ist ein gängiges Missverständnis. Denn sie sind meist zu sehr damit beschäftigt, sich selbst gut zu präsentieren. Das trifft auch auf selbstbewusste Menschen zu. Ich bin mir zum Beispiel nicht sicher, ob Donald Trump eine größere Fähigkeit besitzt, andere Menschen einzuschätzen. Wichtiger ist die Bereitschaft, sich auf andere einlassen, Fühlung aufnehmen und den ersten Eindruck gegebenenfalls auch revidieren zu wollen.

Je klarer das Selbstbild, desto besser die Fremdeinschätzung?
Was die Selbsteinschätzung betrifft, sind wir Menschen Gutachter, die sich selbst permanent Gefälligkeitsatteste ausstellen. Es ist faszinierend, wie wenig wir über uns wissen oder in der Lage sind, offen mit der eigenen Fehlbarkeit umzugehen. Wie sehr wir uns systematisch überschätzen und nicht selbst widersprechen wollen.

Es gibt aber doch sehr selbstkritische Menschen, die sich wenig zutrauen. Sind wir in allen Bereichen schlechte Selbsteinschätzer?

Vor allem sind wir es in Moralfragen. Es mag uns gelingen, andere als klüger oder attraktiver zu beurteilen als uns selbst, aber niemand ist moralischer. Deshalb ist bei Konflikten, zum Beispiel der Trennung vom Partner, immer der Andere Schuld. Das Eingeständnis unserer eigenen Schuld würde unseren Selbstwert bedrohen, deshalb haben wir ein so großes Bedürfnis ein positives Bild von uns zu zeichnen. Weshalb unser Selbstbild nicht immer viel mit der Realität zu tun hat. Hinzu kommt das Paradoxon, dass wir kompetent sein müssten, um die eigene Inkompetenz einschätzen zu können. Wir müssten zum Beispiel musikalisch sein, um beurteilen zu können, dass wir unmusikalisch sind. Je fester man dagegen in den eigenen Schuhen steht, desto weniger Angst hat man davor, aufrichtig zu sein und ein realistisches Bild von sich zu zeigen.

Stimmt es also, dass andere uns besser einschätzen können, als wir uns selber? Anders gefragt: Selbst- und Fremdeinschätzung, warum differieren die so häufig?
Man selbst kann ja nur von sich aus in die Welt schauen und ist dabei meist zu sehr damit beschäftigt, sich selbst im möglichst guten Licht darzustellen. Deshalb wissen wir erstaunlich wenig über uns selbst. Andere Menschen haben es da leichter: Sie sehen einen von außen, objektiv. Müsste ich Sie morgen einstellen, würde ich vorab Ihre Kollegen befragen, denn die können Sie am validesten und ausgewogensten beurteilen – höchstwahrscheinlich besser als Ihr Partner oder Chef.

Kann man eine gute Selbsteinschätzung trainieren?
Was hilft, ist sich die Mechanismen der Überhöhung und die Beschäftigung damit, sich im besten Licht darzustellen, bewusst zu machen. Sich zu fragen: Was spricht objektiv dafür, dass ich geduldig, kreativ, offenherzig bin und was dagegen? Stellen Sie eine radikale Gegenhypothese zu der aus, die Sie über sich selbst haben. Oder bitten Sie Freunde um ein aufrichtiges, ungefiltertes Feedback.

Und gibt es Tricks, den wahren Charakter von Menschen auf den ersten Blick zu erkennen?
Sich kritisch zu hinterfragen, wie man zu seinem Urteil über eine andere Person kam, ist schonmal die halbe Miete. Meist überschätzen wir dramatisch den Einfluss einer Person auf ihr Handeln – und unterschätzen die Situation, in der sie es tut. Wir sollten uns häufiger klar machen, wie wenig wir über unsere Mitmenschen wissen. Max Frisch hat einmal gesagt: „Du sollst Dir kein Bildnis machen!“ Besser wäre es, manchmal innezuhalten im Umgang mit Menschen und bereit dazu sein, uns von ihnen überraschen zu lassen, uns zu fragen: Was weiß ich wirklich über sie? Was treibt meine Einstellung und mein Verhalten ihnen gegenüber an?

Das Gespräch führte Caroline Kron.